Wie die Fische (wieder) bunt wurden

Geschichte von Michél Murawa,
Berater für Partizipation im Modellprojekt „Der Teilhabe-Rabe und die Schatzkiste frühkindlicher Demokratieerfahrung“

Vor langer Zeit – so lange ist das her, dass du und ich uns nicht mehr daran erinnern können – waren die Fische anders als heute. Alle hatten zu dieser Zeit die gleiche Farbe: ein eintöniges Grau, wie ihr es vielleicht manchmal am Himmel sehen könnt, wenn die Wolken dunkel werden und es gleich zu regnen anfängt. Es gab zu dieser Zeit im ganzen Meer keine bunten Fische: keine grünen oder blauen, auch gelbe waren nicht zu finden und nicht einmal rote Fische konnten gesichtet werden.

Erinnert ihr euch an den letzten Fisch, den ihr gesehen habt? Welche Farbe hatte der? Gab es vielleicht sogar mehr als eine Farbe an diesem Fisch?

Sicher wollt ihr jetzt aber wissen, wie das mit den grauen Fischen passieren konnte, richtig? Genau davon handelt diese Geschichte, die ich euch nun erzählen möchte.   

Flora Flauschflosse und der Korallen-Sandkasten

Manche würden von einem Unfall sprechen. Ich nenne es einen waschechten Wasch-Unfall. Treffender wäre noch: ein Wasch-und-Schrubb-Unfall mit ordentlich Schaum. Aber beginnen wir am Anfang.

Es war ein wunderschöner Tag, die Sonne schickte ihre warmen Strahlen durch die Wasseroberfläche. Der forsche Jungfisch Flora Flauschflosse hatte rote Flossen, einen blauen Kopf und lauter grüne Schuppen bedeckten ihren Körper. Ihr wundert euch vielleicht, aber an diesem frühen Nachmittag war Flora noch ein bunter Fisch. Flora unternahm mit ihrer Fisch-Kita-Gruppe einen Ausflug zu ihrem Lieblingsplatz bei den Korallen. Das ist so eine Art Abenteuer-Fisch-Spielplatz auf dem Meeresboden mit vielen Ästen, die in die Luft ragen.

Habt ihr schon einmal Korallen gesehen? Im Film, auf Fotos oder vielleicht sogar echte? Wenn nicht, dann sollten wir uns unbedingt mal welche ansehen. Wie würdet ihr sie beschreiben?

Was sie dort wollte? Das, was alle Kinder und Jungfische gleichermaßen lieben: spielen natürlich. Und wie Flora spielte! Sie versteckte sich hinter Steinen, grub sich im Meeresboden ein, um nicht gesehen zu werden. Auch fegte sie bei Verfolgungsjagden hinter anderen Jungfischen her – sogar durch kleine Wälder aus Seetang hindurch. Und dass man bei so einem ausgiebigen Spiel ein wenig dreckig werden kann, das kennt ihr vielleicht. Flora jedenfalls hatte die Schuppen voller Meeressand und einzelne Algen hatten sich an ihren Flossen verheddert. Ein wenig außer Atem –

Wisst ihr eigentlich wie Fische unter Wasser atmen? Wie bekommen sie dort Luft? Haben sie unsichtbare Strohhalme als Schnorchel? Oder brauchen sie vielleicht gar nicht Luft holen?

– schwamm Flora Flauschflosse mit all den anderen Jungfischen im Schwarm zurück in die Fisch-Kita. Dort warteten bereits ein Fisch-Erzieher und eine Fisch-Erzieherin mit der Vesper-Mahlzeit. Als Flora gerade nach einem Plankton-Happen (das ist so eine Art Keks für Fische) schnappen wollte, ertönte wie aus einem Fisch-Maul: „Na, haben wir da nicht noch etwas vergessen?

Wisst ihr, wer das gefragt haben könnte? Und vor allem: Habt ihr eine Ahnung, was damit gemeint ist?

Flora kannte das schon: Sie sollte sich erst die Flossen und Schuppen sauber machen, bevor sie mit den anderen (die das offenbar schon hinter sich hatten) essen durfte. Also machte sie sich an die Arbeit und wusch sich wieder und wieder. Aber es war wie verhext. Selbst als sie nach der Bürste griff und sich abschrubbte, blieb ein Rest Meeressand und Algen an ihr kleben. Auch der hinzugeeilte Fisch-Erzieher war ratlos.

Da fiel einer Fisch-Erzieherin ein, dass sie erst vorhin gesehen hatte, wie diese „Menschen“ (so nannten sich diese neunmalklugen zweibeinigen Säugetiere über der Wasseroberfläche) ganz in der Nähe etwas Schaumig-Blubberndes ins Wasser geschüttet hatten. Der Schaum könnte vielleicht helfen, Flora wieder sauber zu bekommen. So schwamm sie also mirnichtsdirnichts zu der Stelle und kam mit beiden Flossen voller Schaum zurück. Zusammen mit dem Fisch-Erzieher rieb sich Flora Flauschflosse mit diesem Schaum ein. Es wirkte, denn die letzten Schmutzreste verschwanden. Doch: oh weh! Zusammen mit dem Schmutz verschwand auch ihre Farbe: das Rot von ihren Flossen, das Grün von ihren Schuppen und selbst noch das Blau von ihrem Kopf. Ganz grau blieb sie zurück. Doppel-Oh-Weh: Damit nicht genug! Auch die Fisch-Erzieherin, die den Schaum in die Fisch-Kita gebracht hatte, und nach und nach alle Jungfische und Fisch-Erzieher und Fisch-Erzieherinnen wurden grau. Es war ein wahrlich grau-enhafter Anblick als an diesem Tag, die ganze Fisch-Welt war betrübt! Vielleicht waren all die Bläschen, die aus den Mäulern der Fische aufstiegen, der Grund dafür, dass wir Menschen manchmal davon sprechen, wir würden Trübsal blasen? Wie sollte es nur weitergehen?

Flora Flauschflosse und der Farbstrudel

Was denkt ihr: Was haben die Fische unternommen, dass sie heute wieder so bunt sind wie vor diesem Tag mit dem Schaum? Ob sie sich vielleicht bunte Kostüme übergezogen haben? Leider können Fische mit ihren Flossen so gar nicht gut nähen oder stricken, daher ist möglicherweise noch etwas anderes passiert. Hören wir, wie es weiterging:

Es war ein stürmischer Tag, den man auch im Meer spürte: hohe Wellen durchpflügten das Wasser und wirbelten es durcheinander. Es war ein Hin und Her, ein Auf und Ab in der Fisch-Welt. Den Fischen wurde dabei zwar nicht übel, aber sie mussten schon ganz ordentlich mit den Flossen rudern, um in die gewünschte Richtung zu schwimmen. Oder um auch nur auf der Stelle „stehen“ zu bleiben. Jedenfalls schwamm Flora Flauschflosse an diesem Tag ihren gewohnten Weg zwischen ihrem Zuhause und der Fisch-Kita. Mittlerweile war sie ein Vorschul-Jungfisch, der solche kurzen Wege auch bei Sturm an der Wasseroberfläche eigenständig schwimmen konnte. Aber sie war auch immer noch grau, die Farbe war nicht zurückgekehrt.

Wie sie so an diesem Tag an den Muscheln, Seesternen und den Weißen Rauchern – das sind so etwas wie kleine Vulkane unter Wasser, die den ganzen Tag qualmen – vorbeikam, entdeckte sie plötzlich etwas, das gestern noch nicht dagewesen war: etwas, das für Flora wie ein ungewöhnlicher Stein aussah. Was seltsam daran war: aus dem Stein lief oben etwas heraus. Um zu erkennen, was es war, musste sie näher heranschwimmen. Sie war sich immer noch nicht sicher, aber… Flora Flauschflosse hatte einfach so lange schon keine Farbe mehr gesehen, dass sie es nicht glauben. Farbe! Und dann auch noch hier unter Wasser! Sie war nun ganz aufgeregt. Auf diesem komischen Stein lag noch ein flacher und darunter schien die Farbe hervorzukommen.

Habt ihr eine Idee, was Flora da gefunden haben könnte? Was kennt ihr, woraus Farbe herausfließt? Ein Tuschkasten? Eine Farbtube? Ein Farbeimer?

Sie schob diesen flachen Stein zur Seite und siehe da: alle Farben des Regenbogens flossen heraus! Und weil das Wasser an diesem Tag so unruhig und verwirbelt war, bildete sich ein quietschbunter Farbstrudel. Ihr kennt das vielleicht, wenn ihr schon mal einen Pinsel mit Farbe in ein Wasserglas getaucht und dann ein wenig darin herumgerührt habt. So ähnlich sah es bei Flora aus. Und sie schwamm fröhlich durch all diese durcheinandergewirbelten Farben hindurch. Was passierte dabei wohl? Genau, die Farbe blieb an ihr haften, sodass das Grau endlich verschwand. Weil Flora so glücklich über die Rückkehr der Farbe war, erzählte sie natürlich allen anderen Fischen davon und so sprach sich dieser Farbstrudel blitzschnell herum. Alle Fische des Meeres holten sich ihre Ladung Farbe ab, indem sie hindurch schwammen. Was für ein Freudentag!

So wurden die Fische also wieder bunt

Flora Flauschflosse hatte nie herausgefunden, wie der besondere Stein mit der Farbe auf den Meeresboden gekommen war. Aber sie wusste, dass diese „Menschen“ da oben über der Wasseroberfläche immer mal wieder Sachen ins Wasser fallen ließen. Ziemlich ungeschickt schienen die zu sein. Erst der grau-envolle Schaum und nun der farbenfrohe Stein. Die Fisch-Unterwasserwelt jedenfalls hatte ihre Farben zurück. Und weil alle so heilfroh darüber waren, feiern die Fische bis heute den „Waschen-können-sich-die-Anderen“-Tag. Den habt ihr sicher auch schon mal erlebt: dann ist das Wasser im Meer oder in den Seen und Flüssen ganz trüb und man kann kaum etwas sehen. Für die Fische ist das der beste Zeitpunkt, sich einen Tag lang nicht zu waschen und sich darüber zu freuen, wie bunt sie doch sind. Wenn ihr jetzt denkt: Au ja, das wäre auch etwas für uns, so ein „Waschen-können-sich-die-Anderen“-Tag! Dann denkt aber daran: Waschen hilft zum Beispiel gegen Sand im Essen und gegen Mief. Und Fische sind ja schließlich den ganzen Tag im Wasser.

Weitere Informationen und Literatur

Diese Geschichte ist eine fachlich begründete Variante dieses Originaltextes:

nuk.de/fileadmin/local/DE/help_and_advice/downloads/gute_nacht_geschichten/Der_Tag__als_die_Fische_wieder_bunt_wurden.pdf [zuletzt aufgerufen am 27.08.2024]

Sie wurde geändert, um u.a. adultistischen Vorstellungen entgegenzuwirken, wonach Kinder mit ihren Aktivitäten (umso mehr, wenn diese mit Schmutz und Dreck verbunden sind) vorsätzlich ihre Bezugspersonen (im Original: die Fisch-Mutter) und ihr Umfeld belästigen. Auch am Geschlechterstereotyp von als Jungen gelesenen Kindern, die vermeintlich gern Toben und sich dabei schmutzig machen, soll durch die Änderung zur Protagonistin gekratzt werden.

    Das Zusammen wirkt.

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