Beschwerden und Widerstand
als Teil von Beteiligung in Kita
Fachtext von Michél Murawa, Berater für Partizipation im Modellprojekt „Der Teilhabe-Rabe und die Schatzkiste frühkindlicher Demokratieerfahrung“
Beteiligung und Beschwerde finden sich Seite an Seite im Bundeskinderschutzgesetz von 2012. Verfahren, die Kinder am gemeinsam erlebten Alltag in der Kita real beteiligen, und Möglichkeiten, dass Kinder sich wirksam über das von ihnen in der Kita Erlebte beschweren können, ergänzen einander. Widerständiges Verhalten des Kindes ist demzufolge eine mögliche Form der Beschwerde.
Der Alltag in der Kita ist auch mit dem Erleben von Frust und nicht wahrgenommenen Bedürfnissen verbunden – bei Erwachsenen wie bei Kindern. Dem Ausdruck zu verleihen und auf eine Änderung des Erlebten zu bestehen, ist das Recht der Kinder. Wie können wir als Fachkräfte darauf reagieren?
Umgang mit Beschwerden und Widerstand
Vom Ignorieren und Abtun…
Wenn Kinder sich über eine von den Erwachsenen aufgestellte Regel beschweren, dann wird diese beispielsweise ignoriert, in dem die Erwachsenen darauf beharren, dass die Regel ausnahmslos eingehalten werden muss.
Ein schreiendes und/oder weinendes Kind wird nicht als Beschwerdeführer*in betrachtet und begleitet, sondern als eines, das mit seinem Verhalten nervt und dieses umgehend einstellen soll („Hör‘ auf damit!“ oder „Schluss jetzt!“).
Weit entfernt davon, das Kind und seine Beschwerde ernst zu nehmen, sind Erwachsene auch dann, wenn sie die Beschwerde des Kindes z.B. mit dem adultistischen Satz „Dafür bist du noch zu klein!“ abtun.
… zum Begleiten und Aushandeln
Die Kinder werden im Falle von Wut oder Trauer von den Erwachsenen begleitet, Sorgen werden ernst genommen. Lösungen/Regeln werden zusammen mit Erwachsenen und anderen Kindern gesucht.
Erwachsene erkennen im Weinen und Schreien eine Beschwerde des Kindes. Die Gefühle des Kindes werden respektiert. Das Kind wird gefragt, ob es Hilfe benötigt. Ein Aushandlungsprozess wird gestartet, wenn dies nötig ist.
Kinder wissen, dass sie ihre Beschwerden verbal oder non-verbal äußern können und damit auch Gehör bei den Erwachsenen finden werden.
Quelle: Hildebrandt / Wiemann / Macha (2022), S. 30
Beschwerden zur Verhinderung oder Ermöglichung
Oftmals geht mit einer Beschwerde ein unangenehmes Gefühl einher – bei denen, die sie äußern, als auch bei jenen, an die sie gerichtet ist. Genauso gut kann eine Beschwerde aber auch als wertvoller Veränderungsanstoß ausgehend von der sich unterscheidenden Sichtweise eines anderen Menschen auf die eigene Arbeit erkannt werden. Damit ist dann auch ein Perspektivwechsel auf das beschwerdeführende Kind verbunden. Unmutsäußerungen wie das Verstecken vor einer Fachkraft, Essensverweigerung, Weinen oder gar aggressives Verhalten müssen zuvor jedoch erst einmal von den Fachkräften als Beschwerde erkannt werden (vgl. Winklhofer 2018, S. 20). Laut Backhaus und Wolter (2019) können wir holzschnittartig zwischen zwei Arten von Beschwerden unterscheiden: Mit der Verhinderungsbeschwerde möchte das Kind erreichen, dass die Fachkraft eine bestimmte Handlung unterlässt. Das Kind bedient sich in anderen Fällen der Ermöglichungsbeschwerde, wenn es etwas Bestimmtes zu erreichen sucht – das kann beispielsweise eine kleine Veränderung im Alltagsgeschehen sein, damit eine neue Situation entsteht.
Transparenz über bereits wahrgenommene Beschwerden schafft z.B. eine „Beschwerdewand“, auf der immer auch die Ideen und gefundene Lösungen für alle in der Kita sichtbar gemacht werden können.
Welche Stärken haben Sie bei sich entdeckt, wenn Sie Beschwerden der Kinder im Alltag Ihrer Kita aufnehmen und bearbeiten? Was bleibt herausfordernd?
Beispiel: Zu Tisch mit der neuen Bommelmütze
Halit möchte seine neue orangefarbene Bommelmütze unbedingt während des Essens tragen. Er kennt – wie alle anderen Kinder – die bestehende Regel, dass Mützen wie Käppis im Innenraum (und damit auch am Tisch) nicht getragen werden. Halit gibt zu verstehen, die Mütze unter keinen Umständen abzunehmen. Er fängt an zu weinen. Von der Fachkraft angesprochen, sagt er deutlich, dass er sie aufbehalten will.
Was nun?
Die Fachkraft geht auf Augenhöhe mit Halit und fragt ihn, weshalb ihm die Mütze heute so wichtig ist. Halit erklärt daraufhin, dass die Mütze ein Geschenk seines Papas gewesen sei. Im Bewusstsein, dass die Eltern getrennt leben, ergibt sich nun ein verändertes Bild zur Bedeutung der Mütze. Von der Fachkraft erfährt Halit erneut, wieso ihnen in der Kita die Mützenfrage ebenfalls wichtig ist. Sie kündigt an, mit den anderen Fachkräften und den Kindern zu sprechen, damit sie gemeinsam eine Lösung finden können.
Mehr als eine Frage der Tischkultur?
Im Gespräch mit allen Kindern, in dem diese ihre Sicht darstellen konnten, wird dann deutlich, dass viele ebenfalls die bestehende Mützen-Regel ablehnen. Da im Team jedoch unterschiedliche Vorstellungen darüber existieren, ob eine Mütze am Tisch getragen werden sollte, wird ein Kompromiss gesucht. Er lautet: Fortan gibt es zusätzlich einen Mützen-Tisch, an dem die Kinder und Fachkräfte Platz nehmen können, die Mütze tragen möchten oder damit kein Problem haben. Damit wurde – ausgehend von Halits individueller Beschwerde gegen die Mützen-Regel – ein Aushandlungsprozess in Gang gesetzt, in dem alle Kinder und Fachkräfte an der Lösungsfindung beteiligt waren.
Text leicht variiert nach: Hildebrandt / Wiemann / Macha (2022), S. 26
Fair geregelte Verfahren in der Kita, die auf Fehlerfreundlichkeit und Reflexionsbereitschaft im Team gründen, sind für die Fachkräfte hilfreich, um den eigenen Umgang mit Beschwerden der Kinder immer wieder daraufhin abzuklopfen, ob er Weiterentwicklung zulässt.
Weitere Informationen und Literatur
- Hildebrandt / Wiemann / Macha (2022): Partizipation im Kita-Alltag. Impulse aus der Praxis
- Backhaus / Wolter (2019): Wenn Diskriminierung nicht in den Kummerkasten passt. Eine Arbeitshilfe zur Einführung von diskriminierungssensiblen Beschwerdeverfahren in der Kita. Online abrufbar unter: https://situationsansatz.de/wp-content/uploads/2020/07/Kids_Arbeitshilfe_webversion.pdf
- Winklhofer, Ursula (2018): Partizipation und Beschwerdeverfahren in der Kita. Online abrufbar unter:
https://www.kita-fachtexte.de/fileadmin/Redaktion/Publikationen/KiTaFT_Winklhofer_2018_PartizipationundBeschwerdeverfahren.pdf
Das Zusammen wirkt.