Das pädagogische Konzept des
Te whāriki
von Michél Murawa, Berater für Partizipation im Modellprojekt „Der Teilhabe-Rabe und die Schatzkiste frühkindlicher Demokratieerfahrung“
Dass ein ganzheitliches pädagogisches Konzept aus Neuseeland durchaus auch für deutsche Kindertageseinrichtungen bedeutsam sein kann, soll in diesem Beitrag verdeutlicht werden. Aus der Sprache der Māori (indigenes Volk auf Neuseeland) kann das Te whāriki als „Gewobene Matte, auf der alle stehen können“ übersetzt werden.
Die gewobene Matte, auf der alle stehen können
Übersetzte Darstellung auf Basis von: Ministry of Education (1996): Te Whàriki. He Whàriki Màtauranga mò ngà Mokopuna o Aotearoa. Early Childhood Curriculum, Wellington: Learning Media Limited , S. 13 [online verfügbar: https://www.education.govt.nz/assets/Documents/Early-Childhood/Te-Whariki-1996.pdf]
Die vier Prinzipien
- Selbstermächtigung: Das Kind wird dabei unterstützt, die Verantwortung für das eigenen Lernen zu übernehmen.
- Ganzheitliche Entwicklung: Die Ganzheitlichkeit, mit der Kinder lernen, wird widergespiegelt.
- Familie und Gemeinschaft: Familie und Gemeinschaft als bedeutsamer Faktor für kindliche Lernprozesse sind mit einbezogen.
- Beziehungen: Es wird der Tatsache Rechnung getragen, dass Kinder durch wechselseitige Beziehungen mit den Menschen, Orten und Dingen in ihrer Umgebung lernen.
Die fünf Ziel-Stränge
- Wohlbefinden: Zu jeder Zeit werden das Wohlbefinden und die Gesundheit des Kindes geschützt und gefördert.
- Zugehörigkeit: Ein Gefühl von Zugehörigkeit und Verbundenheit empfinden Kinder und deren Familien in Bezug auf die Mitarbeitenden in den Einrichtungen und durch die Angebote, die sie wahrnehmen.
- Mitwirkung: Die Einrichtungen schaffen eine Umgebung, die jedem Kind gleichermaßen die Chance zum Lernen eröffnet und ihm Gehör schenkt.
- Kommunikation: Es wird eine Umgebung geschaffen, welche die Sprachen, Symbole und kulturellen Güter jedes Kindes schützt und fördert.
- Exploration: Die Umgebung erlaubt den Kindern, ihren natürlichen Erkundungsdrang auszuleben und dabei explorierend zu lernen.
Wie sind diese Stränge im Konzept verwoben?
Es folgen die 5 Zielstränge des Te whāriki in jeweils einem Slider. Diese Abfolge zeigt Ihnen für jeden Zielstrang, welchen Lernveranlagungen er folgt; mit welchen Handlungen und Verhalten darauf hingearbeitet wird, in was für einer Lernumgebung das erfolgen sollte und auf welche Frage der Kinder letztlich geantwortet wird.
Übersetzte eigene Darstellung auf Basis von: Carr, M. (1998): Assessing Children’s Experiences in Early Childhood Settings. Three DVDs and an accompanying booklet, Wellington: New Zealand Council for Educational Research
In der pädagogischen Praxis wird dieses Konzept vor allem in dem Beobachtungsinstrument der Bildungs- und Lerngeschichten (englisch: learning stories) lebendig. In vier Arbeitsschritten kommen diese Lerngeschichten zustande:
1. Beschreiben
Hierbei beobachtet eine pädagogische Fachkraft ein Kind in einer ausgewählten Alltagssituation („magic moments“ im Englischen). Ihre Notizen zur Beobachtung sollen dabei möglichst sachlich (d.h. möglichst wenig bewertend) die Situation wiedergeben und wie das Kind sich in dieser verhält. Fotos können zusätzlich hilfreich sein, wenn diese mit den Familien abgestimmt sind.
Beispiel einer Beschreibung:
Eszra findet einige Hummeln unter einem Strauch im Außengelände. Sie schaut sich die Hummeln genau an und geht dazu in die Hocke. Als Nina sie ruft, bleibt Eszra dennoch in hockender Positon und blickt unbeirrt weiter auf den Boden, auf dem die Hummeln liegen. Nach ca. 30 Sekunden nimmt sie mit ihrem Finger Kontakt zu einer der Hummeln auf. Sie ruft jetzt auch Nora dazu mit den Worten: „Komm – hier sind tote Tiere, tote Bienen!“ Nina hockt sich dazu und vereint blicken sie auf die Tiere. Noch weitere Kinder schließen sie sich ihnen an. Gemeinsam fragen sie sich, ob es eigentlich Bienen oder eben Hummeln sind und woran sie gestorben sein könnten.
2. Diskutieren
Die von einzelnen Fachkräften gemachten Beobachtungen werden anhand der Beschreibungen kollegial diskutiert. Dabei kommen unterschiedliche Sichtweisen auf die Kinder und ihr Verhalten in alltäglichen und doch besonderen Situationen zusammen zusammen getragen und anhand einer ganz konkreten Situation besprochen werden. Auch die Sichtweisen vom Kind selber und von den Eltern können miteinbezogen werden. Es wird dabei versucht den Entwicklungsprozess des Kindes genauer zu beschreiben. Dies wird schriftlich festgehalten, z.B anhand der Fragen: Hat das Kind neue Lösungsstrategien ausprobiert? Sind die Fähigkeiten komplexer geworden, wurden z.B. neue Wörter genutzt, hat es neue SpielpartnerInnen dazu gewonnen, konnte es Kompromisse eingehen?
3. Entscheiden
Im dritten Arbeitsschritt soll es darum gehen, wie pädagogisch auf das Verhalten des Kindes eingegangen werden kann. Die Zielsetzung besteht darin, die sichtbar gewordenen Entwicklungsschritte und Lernanlagen zu vertiefen und neue Experimentierfelder für das Kind zu schaffen. Die gemeinsame Anstrengung der pädagogischen Fachkräfte richtet sich darauf, weitere Situationen oder Herausforderungen zu schaffen, sodass das Kind (ganz im Sinne der Ziel-Stränge und Prinzipien): weiter Interesse zeigen kann, engagiert sein möchte, Herausforderungen standhalten wird, sich mitteilen möchte, in den Austausch geht und in einer Lerngemeinschaft Verantwortung zu übernehmen bereit ist.
Beispiel:
Das Team überlegt, ob sie einen Vater ansprechen, der Hobby-Imker ist. Das Thema Insekten und Bienensterben ließe sich so weiter bearbeiten. Es könnte auch jemand in die Kita eingeladen werden oder ein Ausflug unternommen werden. Zudem wäre es in der Außenanlage denkbar, mit den Kindern gemeinsam ein insektenfreundliches Hochbeet anzulegen oder ein „Insektenhotel“ anzufertigen.
4. Dokumentation
Die Bildungs- und Lerngeschichte wird abschließend in einem Portfolio dokumentiert. Darin werden vorhandene Fotos und Bilder den Beschreibungen an die Seite gestellt. Kommentare, Ideen und Fragen, die das Kind im Verlauf beschäftigt haben, sind wichtiger Bestandteil. Frei zugänglich für das beobachtete Kind können durch wiederkehrende Betrachtung des Portfolios und damit einhergehendes Zurückerinnern, die in der Situation begonnenen Lernprozesse verstetigt und vertieft werden. Es ist die individuelle Lerngeschichte dieses Kindes, das den Anreiz bietet, über Selbstbildungsprozesse ins Gespräch zu kommen – mit dem Kind, mit dessen Familie, im Team.
Wie auch immer pädagogische Fachkräfte das Konzept aus Neuseeland, das in vielen Kitas in Deutschland Anklang gefunden hat, im Detail bewerten: die sich darin ausdrückenden Prinzipien sind universell und laden dazu ein, dem Kind und seinen individuellen Lernwegen Be(ob)achtung zu schenken.
Weitere Informationen und Literatur
- Grieper, Elena (2017): Bildungs- und Lerngeschichten. Online verfügbar unter: https://www.nifbe.de/component/themensammlung?view=item&id=499:bildungs-und-lerngeschichten, letzter Zugriff am 02.07.2024
- Lezim, Andrea (o.J.): Das System der frühkindlichen Bildung in Aotearoa – Neuseeland. Online verfügbar unter: https://www.kindergartenpaedagogik.de/376.pdf, letzter Zugriff am 02.07.2024
- Schulz, Ingrid Elisabeth / Frisch, Sandra (2018): Bildungs- und Lerngeschichten als Konzept, Kinder zu entdecken. Online verfügbar unter:
http://www.kita-fachtexte.de/fileadmin/Redaktion/Publikationen/KiTaFT_Frisch_Schulz_2018-Bildungs-undLerngeschichten.pdf, letzter Zugriff am 02.07.2024
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